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Astroturfing: Wie eine Industrie-Lobbygruppe Stellungnahmen "unabhängiger Wissenschaftler:innen" hinter den Kulissen steuert. Bild: Shutterstock

Als bekannt wurde, dass eine Mehrheit der Abgeordneten im Umweltausschuss des Europäischen Parlaments für die Abschaffung der Sicherheitsprüfungen, der Kennzeichnung und der Haftung für neue GVO gestimmt hatte, jubelte die Lobbygruppe WePlanet und feierte einen «grossen Sieg gegen die Anti-Wissenschafts-Lobby». Entscheidend bei diesem Triumph soll laut WePlanet ein von 35 Nobelpreisträger:innen unterzeichneter offener Brief gewesen sein. Die Unterzeichnenden des Briefes forderten die Politik in der EU auf, nicht auf «populistische Fehlinformationen und Ignoranz» zu hören, sondern auf «bedeutende Wissenschaftler:innen».

Doch wie der Molekulargenetiker Professor Michael Antoniou ausführt, entbehrt der von WePlanet verfasste Brief jeglicher wissenschaftlicher Substanz – vielmehr ist dieser in einer irreführenden Sprache des PR-Marketing geschrieben. Dies sei nicht überraschend, wenn man berücksichtige, welche Art von Lobbyisten hinter dem Schreiben stecken, so Antoniou weiter. Zudem ginge es tatsächlich um Verkauf – nämlich von patentierten GV-Produkten.

Astroturfing

WePlanet rundete die feierliche Erklärung über ihre erfolgreiche Lobbyarbeit ab, indem sie ihre Unterstützer aufforderte, "heute zu spenden, um weitere Siege wie diesen zu sichern!" Zudem bieten sie bereits an, die Kosten für den Transport ihrer Unterstützer nach Strassburg zu übernehmen, um Anfang nächsten Monat vor dem Europäischen Parlament zu demonstrieren, wenn die Abgeordneten über die Deregulierung abstimmen.

Trotz ihrer fast ununterbrochenen Spendenaufrufe wird WePlanet – früher unter dem Namen RePlanet bekannt – in Wirklichkeit bereits grosszügig finanziert, um neben Atomkraft und synthetischen Lebensmitteln auch GVO zu fördern. Der Vorwurf «alle Merkmale einer ausgeklügelten Astroturf-Organisation zu haben, deren eigentliche Aufgabe es ist, die Interessen der Industrie zu fördern, nicht zuletzt durch die Schwächung der EU-Vorschriften für Agrochemikalien und 'neuartige Lebensmittel» ist also nicht unbegründet. Der Mitbegründer und leitender Stratege der Organisation, Mark Lynas, wurde wiederholt wegen ungenauer, irreführender und sogar völlig erfundener Behauptungen kritisiert.

Anhaltende Fehlinformationen

Diese Kritik scheint sich einmal mehr zu bestätigen. Denn als WePlanet um Unterstützung für ihren offenen Brief warb, behauptete sie, dass nach den bestehenden GVO-Vorschriften neue genomische Techniken (NGT) in der Europäischen Union nicht erlaubt seien. Auch in ihrer parallel laufenden Reboot Food-Kampagne fordert die Organisation die EU dazu auf, Genomeditierung, genetische Veränderungen und andere neue Züchtungstechniken zu «legalisieren».

In Wirklichkeit ist der Einsatz von Genomeditierung und älteren Techniken der genetischen Veränderung in der EU völlig legal. Ebenso legal sind GVO – unabhängig davon, ob sie mittels neuer oder alter Gentechnik erzeugt wurden – sowohl für den Verbrauch als auch für den Anbau. So darf etwa in Spanien oder in Portugal seit Jahren GV-Mais angebaut werden.

Was die GVO-Industrie und ihre Befürworter wie WePlanet tatsächlich beanstanden, ist die Tatsache, dass GVO in Europa derzeit nicht ohne Risikoprüfung, Rückverfolgung und Kennzeichnung auf den Markt gebracht werden dürfen, so dass die Verbraucher und die Lebensmittelindustrie die Möglichkeit haben, sie zu vermeiden. Sie streben deshalb eine Deregulierung an, um diese Einflussmöglichkeit zu streichen. So soll ein viel lukrativerer Markt für GVO entstehen.

Ein Milliardengeschäft

Denn es geht um viel Geld. Sich auf einen Bericht stützend behauptet WePlanet, dass «die Nichtzulassung der Produkte der neuen Gentechnik die europäische Wirtschaft jährlich 300 Milliarden Euro an «entgangenem Nutzen» kosten könnte.

Damit unterstellt sie einerseits fälschlicherweise, NGT seien derzeit nicht erlaubt. Andererseits wird verschwiegen, dass der Bericht nicht von Experten, sondern von Mark Lynas von WePlanet verfasst wurde – zusammen mit einem Co-Autor vom ökomodernistischen Breakthrough Institute, einer US-Denkfabrik, die Lobbyarbeit für schnellen und lukrativen Technofixes mit kurzfristiger Wirkung und unbekannten Risiken betreibt. Finanziert wurde das Papier durch Lynas` Arbeitgeber, die Alliance for Science – eine GVO-Propagandaorganisation mit Sitz in New York.

Unabhängige Wissenschaft?

Trotz Mangel an wissenschaftlicher Substanz und irreführenden Verzerrungen wurde der offene Brief von mehr als 1.000 Personen aus der Wissenschaft unterzeichnet, darunter 35 Nobelpreistragenden, inklusive Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier, den beiden Erfinderinnen der Genschere CRISPR/Cas.

Doch auch diese Starunterzeichner:innen sind kaum uneigennützig, denn sie haben Unternehmen gegründet, um die von ihnen entdeckte Technologie u.a. an die grossen GVO- und Chemiekonzerne zu lizenzieren. Zu diesen gehört auch Corteva (ehemals DuPont), ein Konzern, der bereits heute die Patentlandschaft von CRISPR/Cas dominiert. Laut Recherchen der italienischen Gruppe für Ernährungssouveränität (Centro Internazionale Crocevia) sind Doudna und Charpentier als Erfinderinnen in insgesamt 516 weltweit angemeldeten CRISPR-Patenten aufgeführt, von denen 66 europäische Patente sind. All dies wirft ein etwas anderes Licht auf ihre Unterstützung für eine Deregulierung der Technologie, in die sie so stark investiert haben.

Prominente Autoren

Ebenfalls ganz vorne auf der Liste der Unterzeichnenden befinden sich Peter Singer und Steven Pinker, beide «weltberühmte Autoren» – wie Mark Lynas sie nennt – und beide umstritten.

Der Bioethiker Peter Singer hat sich mit seinem langjährigen Engagement für Tierrechte einen Namen gemacht. Doch gleichzeitig setzte er sich nicht nur für die Gentechnik am Menschen, sondern auch für die Zulässigkeit der Euthanasie bestimmter behinderter Neugeborener ein und hat mit seinen Ansichten weltweit für Empörung gesorgt.

Steven Pinker, ein Starpsychologe, bezeichnet sich ebenso wie Mark Lynas als Ökomodernist und ist technologiebegeistert. Pinker hat ebenfalls Kritik auf sich gezogen, u.a. weil er mit dem Breakthrough Institute zusammenarbeitet und dessen Schriften fördert, obwohl diese den Klimawandel herunterspielen.

Ein Déjà-vu

Warum haben aber so viele andere Preisträger den offenen Brief unterschrieben? Den Schlüssel dazu liefert ein anderer Hauptunterzeichner – vermutlich auch der Motor der ganzen Aktion:

Sir Richard J. Roberts ist wissenschaftlicher Leiter von New England Biolabs, einem privaten Biotechunternehmen, dessen Produkte in Patenten von Dow Agrosciences (jetzt Teil von Corteva) und Monsanto (jetzt im Besitz von Bayer) erwähnt werden. Roberts ist ein eifriger Befürworter der Biotechnologie, der behauptet, dass Millionen von Menschen sterben würden, wenn gentechnisch veränderte Pflanzen nicht zugelassen werden, und dass es ein «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» darstelle, sich ihrer Zulassung zu widersetzen.

Er verfügt auch langjährige Erfahrung darin, Nobelpreisträger, die oft keine Fachkenntnisse im betreffenden Thema haben, für schlagzeilenträchtige offene Briefe zur Verteidigung von seiner Biotechinteressen zu gewinnen.

So organisierte Roberts beispielsweise im Jahr 2016 über 100 Nobelpreisträger, die einen Brief unterzeichneten, in dem Greenpeace aufgefordert wurde, den Widerstand gegen gentechnisch veränderte Organismen (GVO) aufzugeben (#Nobels4GMO). Im Mittelpunkt dieses Briefes standen hochemotionale Behauptungen darüber, wie Greenpeace die Entwicklung des "Golden Rice" behindere. Diese Behauptungen wurden später sogar von einem Forscher, der selbst an der Entwicklung des Reises beteiligt war, widerlegt. Auch Mark Lynas musste zugeben, dass einige der Unterstellungen unzutreffend und «übertrieben» waren.

PR für die Biotechindustrie

Doch Roberts war nicht der einzige wichtige Fadenzieher hinter der Aktion #Nobels4GMO. Der ehemalige Direktor für Unternehmenskommunikation von Monsanto, Jay Byrne ist ihm tatkräftig beigestanden. Wie Byrne gegenüber dem Enthüllungsjournalisten Vincent Harmsen bestätigte, fungierte er vor dem Start der Kampagne ein ganzes Jahr lang als Roberts PR-Berater.

Byrne, der eine eigene PR-Firma namens v-Fluence besitzt – zu deren Kunden die Chemie- und Biotechindustrie, sowie auch die Alliance for Science gehören – ist ein Meister von verdeckten PR-Operationen und versteckter Einflussnahme. Er scheut auch nicht davor zurück, Wissenschaftler:innen mit Industriegeldern für PR-Zwecke zu beschäftigen, inklusive Angriffe auf die Kritiker der Industrie. Bei solchen Aktionen wird die Beteiligung der Industrie jedoch sorgfältig verborgen gehalten.

Mit der Alliance for Science arbeitet Byrne seit deren Gründung im Jahr 2014 zusammen. Mit Lynas setzte er sich für die Förderung von gentechnisch veränderten Nutzpflanzen ein, bevor Letzterer 2014 der Alliance beitrat. In Anbetracht dieser Tatsachen fällt es schwer, den jüngsten Brief der Nobelpreisträger zur Unterstützung der Biotechnologie nicht als Fortsetzung seiner industriefreundlichen PR-Aktionen zu betrachten.

Unbewiesene Versprechen der Industrie

Auffällig ist, dass der offene Brief von WePlanet nicht auf die Bedenken eingeht, die zahlreiche Gremien – z.B. die französische Behörde für Lebensmittelsicherheit ANSES oder das deutsche Bundesamt für Naturschutz – in Bezug auf die Deregulierung geäussert hatten. Gegenargumente zu den zahlreichen Bedenken, die in sorgfältig referenzierten Stellungnahmen und Briefen anderer europäischer Wissenschaftler und Akademiker zu finden sind, werden ebenfalls nicht aufgeführt.

Stattdessen konzentriert sich der Brief lediglich auf unbewiesene Versprechungen der GVO-Industrie: Pestizidreduktion, Lösungen für den Klimawandel – dies trotz evidenzbasierter Analysen, die zeigen, dass auch die neuen GVO wenig oder gar nichts zu diesen Zielen beitragen werden können.

Berufung auf Autorität

Dass der Brief von WePlanet weitaus mehr Unterschriften von Wissenschaftlern erhalten hat als andere, sorgfältig referenzierte Briefe, welche Bedenken gegenüber der Technologie äusserten, ist kein Wunder. Denn einerseits wird mit grossen, emotionalen Versprechen für die Technologie geworben: Es wird von einem massiven Geldsegen, von neuen Arbeitsplätzen und von einem grösseren wirtschaftlichen Wohlstand geredet. Der Brief ist also in der Sprache des PR-Marketing verfasst und nicht in jener der Wissenschaft. Schliesslich geht es um den Verkauf patentierter neuer GVO-Produkte. Andererseits wirken die 35 Nobelpreistragenden verlockend – in ihrer Gesellschaft fühlen sich potenzielle Unterschreibende sicher.

Doch in der Wissenschaft geht es nicht um «Vertrauen», sondern um das Aufzeigen von Fakten und Beweisen. Der Missbrauch wissenschaftlicher Autorität ist ein grosser Fehler – denn auch Wissenschaftler:innen können sich irren. So war die französische Akademie der Wissenschaften einst sogar eine Bastion der Klimaskepsis. Sie sprach sich auch gegen das Vorsorgeprinzip aus, um die Schiefergasexploration zu unterstützen. Und noch im Jahr 1996 plädierte die National Academy of Medicine für die weitere Verwendung von Asbest.

Angriffe auf der persönlichen Ebene

Auch der Tonfall des Briefes lässt zu wünschen übrig. Dieser sei beleidigend und diffamierend, stellt Professor Antoniou fest. So werden diejenigen, die im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip (ein Hauptprinzip der Europäischen Umweltrechts) Bedenken gegen die Deregulierung äussern – etwa die Experten der ANSES oder des deutschen Bundesamts für Naturschutzes –, als in «Ideologie und Dogmatismus» versunken und innovationsfeindlich oder sogar als «reaktive Anti-Wissenschafts-Lobbyisten in der Brüsseler Blase» bezeichnet, die sich in «der Dunkelheit der Anti-Wissenschafts-Angstmacherei» verlieren. Eine Ausdrucksweise, wie sie von Byrne, Lynas und der Alliance for Science bevorzugt wird.

Sie wird als Waffe gegen diejenigen eingesetzt, die unangenehme Fragen stellen. Laut Professor Jack Stilgoe, der an der University College London Kurse über verantwortungsvolle Wissenschaft und Innovation, sowie über die Steuerung neu entstehender Technologien gibt, spiegelt diese Art Vorgehen eine Privatisierung der Idee des Fortschritts wider, die für die Wissenschaft und die Gesellschaft gefährlich ist. Denn sobald die Wissenschaft als untrennbar von einem bestimmten Weg angesehen wird, wird eine Debatte unmöglich. Sind etwa die zahlreichen Wissenschaftler:innen, beispielsweise Ökolog:innen oder Molekularbiolog:innen, die GVO kritisch gegenüberstehen, gegen die Wissenschaft? Nein. Vielmehr handelt es sich um Persönlichkeiten aus der Wissenschaft und von Organisationen, die sich von wissenschaftlichen Erkenntnissen und von der verantwortungsvollen Entschlossenheit leiten lassen, den Menschen und die Umwelt über den Profit zu stellen. Der offene Brief lässt daran zweifeln, ob diejenigen, die dahinterstehen, diese Entschlossenheit teilen.